18.07.2011
22. Woche
Zeit für Zeugnisse
Musikfestival und Verkehrsstaus; MG ohne Sprit; Zeugnisse und Tränen; Finn mal wieder ausgeladen; die „große“ Schule; Fußball und Chorsingen
Gerade ist mir aufgefallen, dass ein Standardeinstieg in meine Tagebucheinträge ist „ich sitze im Café und ...“ nun, dummerweise sitze ich gerade wieder im Café, aber ich will mir trotzdem etwas anderes einfallen lassen ......................... nein, sorry mir fällt absolut nichts ein. Also wie gehabt: Es ist mal wieder Sonntagnachmittag, gerade scheint die Sonne, nachdem das Wetter seit Tagen total rumspinnt. Sonne, Regenstürme, Sonne, Regenstürme und so weiter. Finn und Josh sind mit Sue auf eine Geburtstagsparty gegangen. Ich sollte eigentlich arbeiten, aber wurde gerade eineinhalb Stunden von meinem Freund Olli „abgelenkt“. Eine sehr willkommene Zerstreuung, denn so richtige Lust zum Arbeiten hatte ich nicht.
Während wir plauderten, kamen ständig junge Leute mit Regencapes und Gummistiefeln ins Café – in unserem Park (genannt Victoria Park) findet dieses Wochenende ein Musikfestival unter freiem Himmel statt. Ich sehe ganz gern die jungen Leute wie sie aufgestylt in den Park strömen, aber es hat auch Schattenseiten. Der Verkehr um den Park herum ist eine Katastrophe solange die Veranstaltung andauert. Und gestern steckten Finn und ich mit meinem MG zweimal in schier endlosen Verkehrsstaus. Schrecklich! Insbesondere, weil ich fast kein Benzin mehr im Tank hatte und betete, dass wir nicht auf der Strecke liegenblieben. Eines sollte man in London nämlich nicht machen: eine Autopanne haben. Auf fast allen stärker befahrenen Straßen herrscht Haltverbot. Wer das missachtet, dessen Fahrzeug wird mitunter binnen einer Viertelstunde abgeschleppt.
Die Tankuhr an unserem MG ist nicht besonders genau, und doof wie ich bin hatte ich den Schlüssel fürs Tankschloss vergessen, was mir aber erst auffiel, nachdem ich bereits mit dem Wagen an der Tanksäule stand. Peinlich, peinlich. Auf dem Weg nach Hause kriegte ich es mit der Angst zu tun, denn ich befürchtete nicht nur, dass der MG abgeschleppt werden könnte, wenn uns auf einer Kreuzung das Benzin ausging (und wir wissen ja alle aus Erfahrung, dass Autos gerne mitten auf Kreuzungen stehen bleiben), sondern auch, dass Finn panisch werden würde. Er hat grundsätzlich große Angst davor, dass uns der Sprit ausgeht (von dem unglaublichen Hupkonzert, das dies nach sich ziehen würde, einmal abgesehen).
Es musste also eine Entscheidung gefällt werden: Ich beschloss, den nächsten freien Parkplatz anzusteuern und den Wagen dort abzustellen. Morgen war immer noch Zeit, den MG mit dem Reservekanister zu betanken. Außerdem waren wir nur eine Viertelstunde Fußmarsch von Zuhause entfernt und es schien gerade die Sonne. Also parkten Finn und ich, schlossen die Kiste ab und setzen unsere Reise zu Fuß fort.
Was passierte noch diese Woche? Es ist die Zeit der Zeugnisausgabe in Englands Schulen. Finn war als erster dran, Joshs Giftzettel kommt nächste Woche. Zeugnisse sind eine heikles Thema für Finn. Er ist einfach wegen seines Autimus in der Schule nicht so gut, wie er sein könnte. In den ersten Jahren war es besonders schlimm. Da war die Zeugnisausgabe von vielen Tränen begleitet, wenn sich herausstellte, dass Finn in keinem Fach über die Vier hinauskam, während sein Bruder Einsen und Zweien einheimste. Finn war oft untröstlich und auch für uns als Eltern war das eine schwere Zeit. Inzwischen ist der Kleine überwiegend auf Drei (außer in Mathe, was ihm einfach nicht liegt) und er kassiert sogar schon die ein oder andere Zwei. Sue und ich sind heilfroh. Nur wenn Josh nächste Woche wieder mit Einsen und Zweien nach Hause kommt, dann dürfte es wieder ein bisschen schwierig werden.
Von den Noten angesehen, schreiben englische Lehrer auch einen kurzen Bericht über das Verhalten der Kids in der Schule. Finns Betragen hat sich im Vergleich zu den Anfangsjahren stark verbessert. Wie seine Lehrerin Michelle uns mitteilte, bringt er sich viel mehr im Unterricht ein (was er bislang nur selten tat), auch an Gruppenarbeit nimmt er stärker teil (sonst war er immer der letzte, der in der Gruppe eine Aufgabe lösen wollte) und er hat freundschaftliche Bande mit seinen Mitschülern geknüpft. Früher verging keine Woche, manchmal kein Tag an dem uns die Lehrerin nicht beiseite nahm, um uns zu erklären, dass Finn einen Streit gehabt oder sich sonstwie danebenbenommen hätte. Das hat sich fast komplett gelegt. Und insofern ist auch das Zeugnis keine so große Hürde mehr und Finn ist sehr stolz auf seine Fortschritte.
Am Dienstag war Josh wieder bei Cameron eingeladen – ihr erinnert euch? Camerons Mutter hatte mir letzte Woche erklärt, dass Finn nicht mehr kommen könnte. Auch diese Woche war Finn nicht erwünscht, und ich schäumte vor Wut. Und ausgerechnet ich sollte Josh bei Camerons Eltern abholen. Eine Begegnung auf die ich mich wirklich nicht freute. Ich kann einfach in solchen Situationen mit anderen Eltern kein Mitgefühl haben. Finn soll als Autist Rücksicht auf Nichtautisten nehmen? Das ist in schwieriges Thema für mich. Es ist leicht, Finn aufgrund seines Verhaltens zu kritisieren, aber er kann nun mal nicht anders. Nicht-autistische Kinder haben es in der Regel viel leichter, ihr Verhalten zu ändern. Und ich erwarte eine gewisse Rücksichtnahme, auch wenn anderen Menschen das nicht passt. Finn fällt es eben schwerer, soziale Bindungen zu knüpfen (was sich vermutlich mit dem Alter bessern wird), aber so lange es ihm schwerfällt, sind es vor allem Sue und ich, die ihm die Stange halten und für ihn eintreten, wenn er selbst nicht für seine Rechte eintreten kann.
Davon abgesehen, ist Finns Verhalten wirklich nicht so schwierig, denn sonst könnte er ja nicht in eine Regelschule gehen. Sharon (Camerons Mutter) öffnete die Tür, und ich war reserviert freundlich. Da ich aber sonst wesentlich netter war, dürfte der Unterschied offensichtlich gewesen sein. Sharon schaute mich einige Male verstohlen an, aber ich sagte nichts. Am nächsten Tag sprach sie mich in der Schule an und erklärte, sie wolle Finn und Josh bald wieder gemeinsam einladen. Man darf gespannt sein ...
Am Mittwoch besuchten Sue, Finn und ich eine weiterführende Schule, denn nächstes Jahr kommt Finn in die siebte Klasse und das heißt in England Schulwechsel. Englische Schüler gehen sechs Jahre auf die Grundschule, dann weitere sechs Jahre auf eine weiterführende Schule. Die Schule, die wir besuchten, ist bereits öfter in den Schlagzeilen unserer Lokalzeitung gewesen, denn sie hat einen guten Ruf und wird zum Teil von der Unternehmensberatung KPMG gesponsert. Ein neues Finanzierungsmodell der britischen Kultusbehörde. Alles gefiel mit sehr gut. Es war sauber und ordentlich und die Kinder machten einen sehr freundlichen Eindruck. Nur: Die weißen Kinder sind absolut in der Minderzahl. Ein bisschen Angst macht mir das schon, weil ich befürchte, dass Finn Aufmerksamkeit erregen wird – nicht nur wegen seines Verhaltens, sondern auch wegen seiner Hautfarbe. Aber das ist unsere örtliche Schule und wir müssten umziehen, wenn die Jungs eine andere Lehranstalt besuchen sollten. Michelle hatte übrigens Finn erlaubt, nach unserer Schulbesichtigung Heim zu gehen.
Später machte ich mich also auf den Weg, Josh abzuholen. Auf dem Heimweg stießen wir auf seinen Freund Henry, der im Park Fußball spielte. Josh wollte mitkicken, also setzte ich mich eineinhalb Stunden auf eine Parkbank und las. Diverse Väter werden sich vermutlich fragen, warum ich kein Fußball mit den Jungs spielte, aber ich mag Fußball nun mal nicht. Es ist nicht so, dass ich zwei linke Füße hätte (naja, ein bisschen vielleicht, aber ich habe mit Fußball eben nichts am Hut). Wiederhole ich mich hier eigentlich? Das Thema Fußball hatten wir doch schon mal, oder?
Donnerstag: Chorsingen mit Josh. Der Schulchor hatte am Donnerstag eine Aufführung und meine Frau wollte unbedingt hingehen. Ich nicht so sehr und so holte ich Finn vor der Schule ab und wir setzten uns ein Stündchen ins Café. Meine Frau meinte anschließend, der Gesang sei fantastisch gewesen. Ich habe so meine Zweifel, aber lassen wir das ...
So, jetzt höre ich lieber auf, denn der Eintrag ist schon sehr lang. Ich wünsche allen Lesern eine schöne Woche und bis die Tage.
Greetings,
Frank
Birgitt, Österreich:
19.07.2011 12:05
habe gerade mit großem Interesse die ganzen Einträge gelesen - kann meine Tochter immer wieder in Finn erkennen, auch wenn im Krankenhaus gesagt wurde, sie habe doch nicht das Asperger-Syndrom. Leider kann Katharina derzeit keine "normale" Regelschule besuchen, mit ihrem Sozialverhalten hat sie in der Schule zu oft angeeckt. Das tut mir besonders weh, denn auf der anderen Seite habe ich am Papier die Diagnose "Hochbegabt"...
Vollzeitvatrer:
18.07.2011 15:59
Wieso hat Finn beseronder viel Angst davor, dass das Bezin ausgeht? Passiert dies so häufig? :)
Eine Frage hätte ich mal zu Finn, macht ihr eigentlich eine gfcf-Diät mit ihm? In Deutschland ist das noch nicht so üblich, in den USA allerdings schon eher die Regel bei Autismus und ADHS.