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13.06.2011 18. Woche
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Teenagerallüren

My other ride is your sister; Museumsbesuch; Josh hat eine Krise; Schokoladenseiten; Mord oder Notwehr?; 1485 Worte
Eben bin ich an einem Laden vorbeigegangen, in dem ein T-Shirt hing auf dem ein amerikanisches Muscle Car zu sehen war, und darunter stand zu lesen: „My other ride is your sister!“ Unglaublich, oder? So etwas würde ich nur in meinen kühnsten Träumen anziehen ...

Gerade bin ich in an meinem Büroplatz in Soho und schaue aus dem Fenster. Das Wetter ist trübe, und ich müsste eigentlich arbeiten, aber jetzt habe ich Lust einen Tagebucheintrag zu schreiben. Arbeiten kann ich auch noch später.

Meine Frau ist heute mit den Jungs unterwegs. Ich glaube, sie wollte in die National Portrait Gallery gehen. Meine Frau ist Künstlerin, und versucht den Buben die höheren Weihen der Kunst nahezubringen. Ob das immer so klappt wage ich zu bezweifeln, aber naja. Sie musste Finn jedenfalls versprechen, dass er unterwegs diverse Snacks (normalerweise Chips und Cola oder so etwas) haben dürfte, damit er sich nach einer Stunde heute morgen endlich aus dem Haus bewegte.

Ihr ahnt es schon: Finn hat mit Museen nichts am Hut. Hatte er noch nie. Es fällt ihm schwer, die vielen Sinneseindrücke dort zu verarbeiten. Ein typisches Aspergerproblem. Wenn wir zum Beispiel im Kino einen 3D-Film schauen, dann nimmt Finn immer seine 3D-Brille ab. Es wird ihm sonst einfach zu viel. Josh lässt sich im Allgemeinen für Museen begeistern. Am besten es gibt dort Dinosaurier oder Mumien zu sehen. Dafür sind Beide zu haben. Mit Gemälden dagegen ist das so eine Sache. Ich erwarte, dass meine Frau schlecht gelaunt ist, wenn ich nach Hause komme, weil es nicht so gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hat. Vielleicht mache ich doch lieber noch einen Abstecher in die Kneipe?

Ich hätte heute auch gerne etwas mit den Jungs unternommen, aber ich muss arbeiten, da beißt die Maus keinen Faden ab. Sonst sind wir irgendwann pleite und spätestens, wenn sie unsere Internetverbindung abschalten, weil ich die Telefonrechnung nicht bezahlt habe, ist auch mit dem Vätertagebuch Feierabend. Aber so weit will ich es dann doch nicht kommen lassen. Wenn alle Stricke reißen, kann ich auch ins Büro nach Soho oder in irgendein Café mit Wifi gehen. Davon gibt es ja in London genug.

Meistens berichte ich von Finns Eskapaden und seinem etwas exzentrischen Verhalten, aber diese Woche war es Josh, der sich ein bisschen schräg aufführte. Mir war in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, dass er emotionaler reagierte als sonst. Wenn er einige Jahre älter wäre, könnte man fast von Teenagerallüren sprechen. Er wird urplötzlich sehr wütend und nimmt das Leben viel ernster als sonst, was bei Finn und mir manchmal zu ganz milden Lachern führte. Natürlich machte das alles noch schlimmer und Josh fuhr einige Male ziemlich aus der Haut. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich mir meist nicht viele Gedanken mache, wenn so etwas passiert. Es sind eben Kinder und die durchleben Phasen. Meine Frau ist da etwas aufmerksamer. Ihr fiel Finns autistisches Verhalten schon auf als der Junge erst drei Jahre alt war. Allerdings verbrachte sie damals auch viel mehr Zeit mit den Jungs als ich.

Am Samstag, während ich in Soho an meinem Schreibtisch saß, muss es Zuhause hoch hergegangen sein. Jedenfalls erzählte mir Sue am Abend, dass Josh sich ganz furchtbar aufgeführt hätte. Er sei richtig aggressiv gewesen. Dann habe er plötzlich unheimlich geweint und sagte, er wolle nicht mehr mit uns leben, denn alle würden ihn nur herumkommandieren oder über ihn lachen. Und außerdem stünde Finn immer im Mittelpunkt, weil er Asperger hat. Ich muss gestehen, ich war sprachlos. Immerhin ist Josh ja erst acht Jahre alt und doch schon zu erstaunlichen Beobachtungen und Schlußfolgerungen fähig – oder wie würdet ihr das sehen?

Also ich glaube nicht, dass ich mit Acht auf die Idee gekommen wäre, nicht mehr mit meinen Eltern leben zu wollen. Vielleicht werden die Kinder heute auch schneller erwachsen. Ich war jedenfalls verblüfft und wusste nicht so recht, was ich dazu sage sollte. Am nächsten Tag machte Josh wieder einen recht fidelen Eindruck, aber ich schätze, die Sache wird noch ein Nachspiel haben. Was fällt euch dazu ein, liebe Leser? Meine Frau bat mich, mit Josh zu sprechen. Habt ihr Vorschläge wie ich das Gespräch mit dem Kleinen angehen könnte?

Die zurückliegende Woche war ziemlich hektisch, denn Sue arbeitete an allen fünf Tagen, was für mich bedeutete, dass ich die Jungs abholen und sie nach der Schule beaufsichtigen musste. Hausaufgaben machen wir meistens am Wochenende. Montag waren wir nach der Schule zuhause und schauten Fernsehen. Am Dienstag war Finn nach der Schule zu einer Geburtstagparty eingeladen. Weil es sich nicht gelohnt hätte nach Hause zu laufen (morgens bringe ich die Jungs mit dem Auto in die Schule, nachmitttags hole ich sie zu Fuß ab – oder hatte ich das schon erwähnt?) hielten sich Josh und ich also ein Stündchen im Café auf was sehr nett war bis auf die Tatsache, dass der Kleine sich furchtbar mit Schokolade beschmierte.

Die Schokolade für die heiße Schokolade in unserem Lieblingscafé kommt nämlich an einem Holzstab und will dann in die heiße Milch gerührt werden. Natürlich sollte man den Stab während dieser Prozedur nicht herausnehmen. Genau das tat Josh aber und schwupps hatte er einen Klumpen halbflüssige Schokolade auf dem Bein (er hatte kurze Hosen an). Er versuchte dann schnell die Pampe wegzuwischen, bevor ich es merkte. Das klappte aber nicht, sondern er verteilte die Schokolade nur sehr gleichmäßig über das ganze Bein. Ich musste wirklich lachen, denn es sah urkomisch aus. Anschließend holten wie Finn von der Geburtstagsparty ab. Mit dieser Party hatte es übrigens etwas auf sich.

Die Mutter des Geburtstagskindes ist eine recht junge Witwe nennen wir sie Claudia. Das ist an sich nichts ungewöhnliches, wenn ihr Mann nicht ermordet worden wäre. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, so werdet ihr euch sicher wundern, wenn ihr lest, dass ihr Mann von seinem eigenen Schwiegervater, Claudias Vater, ermordet wurde. Ihr solltet allerdings auch wissen, dass Claudias Vater ein angesehenes Mitglied unserer Kirchengemeinde ist und sein ganzes Leben lang als Religionslehrer gearbeitet hat. Also nicht gerade jemand, an dem ein Mörder verloren geht, oder?

Über den Tathergang haben wir bislang nur Gerüchte gehört. Angeblich soll es zwischen dem Vater und seinem Schwiegersohn zu einem furchtbaren Streit gekommen sein, weil er sich öfter an Claudia vergriffen habe. Ich erinnere mich daran, dass ich Claudia vor dem Ableben ihres Mannes einige Male mit einer sehr großen, sehr dunklen Sonnenbrille im Gottesdienst am Sonntagmorgen gesehen habe. Auf jeden Fall soll die Witwe öfter verprügelt worden sein und eines Abends ging ihr Vater dazwischen. Es kam zu einem Handgemenge in dessen Verlauf Claudias Vater (alle hatten wohl auch Alkohol getrunken) zu einem Kricketschläger griff und auf den Ehemann einschlug. Claudias Mann erlag später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der Vater wurde angeklagt und verbrachte etwa ein Jahr im Gefängnis, ist aber seit einigen Monaten wieder auf freiem Fuß.

Vielleicht werdet ihr euch fragen, wieso ich meinen Sohn dort auf eine Geburtsparty gehen lasse (denn Claudias Vater war auch dort, er ist ja der Opa). Dafür gibt es verschiedene Gründe: Finn mag Claudias ältesten Sohn (der in seine Klasse geht) sehr gerne und hatte sich schon seit Wochen auf die Feier gefreut. Claudia ist eine sehr nette Frau und hat wohl in ihrem Leben schon genug gelitten, und ich möchte nicht dazu beitragen, indem wir sie meiden. Sue und ich waren mit ihr schon vor dem Tod ihres Mannes ein bisschen befreundet, es wäre also sehr komisch gewesen, wenn wir ihr plötzlich aus dem Weg gegangen wären. Sue meinte, sie hätte nach dem schrecklichen Ereignis öfter mit ihr auf dem Schulhof gesprochen und sie sei regelmäßig in Tränen ausgebrochen. Was die Tat betrifft so vermute ich, Claudias Vater wäre nicht schon aus dem Gefängnis entlassen worden, wenn es sich um Mord gehandelt hätte. Vermutlich war es ein Fall von Notwehr. Aber so genau werden wir das wohl nie erfahren.

Nach dieser Schauergeschichte aber wieder zurück zu den heiteren Dingen des Lebens. Am Mittwoch ging Josh nach der Schule in seinen Fußballclub, und Finn und ich ins Café. Finn geht dort sehr gerne hin. Wir hatten sehr viel Spaß und lachten oft. Finn sagt manchmal wirklich komische Dinge als Folge seines Autismus, aber er ist inzwischen auch immer öfter in der Lage selbst darüber zu lachen. Für Asperger-Kinder ist es sehr schwer, Humor zu verstehen, besonders wenn sie die Zielscheibe sind. Sie nehmen das sehr persönlich und sind schnell sehr verletzt.

Am Donnerstag besuchte Josh seinen Freund Sam und Finn war totunglücklich darüber, dass er nicht mitgehen durfte. Manchmal darf er nämlich mitgehen, aber an diesem Nachmittag waren noch andere Kinder zu Besuch und Sams Mutter meinte, es wäre ihr zu viel, wenn Finn käme. Ich fand das nicht gut, aber was sollte ich machen?

Am Freitag besuchten beide Jungs nach der Schule ihren Freund Lisandr, und ich war heilfroh, weil es der einzige Nachmittag in dieser Woche war, an dem ich die Jungs nicht abholen musste. Hurra! Aber Erholung war trotzdem nicht angesagt, denn ich musste arbeiten. „No rest for the wicked“ wie die Briten sagen.

So jetzt habe ich schon 1485 Worte getippt und das muss für diese Woche reichen. Ich bin sicher, dass ich noch etwas vergessen habe – wie jede Woche eigentlich. Aber ich will nicht damit anfangen, Nachträge einzureichen, sonst sitze ich irgendwann jeden Abend an einem Tagebucheintrag.

Außerdem ist es schon 21.37 Uhr und ich will nach Hause gehen. Gehen ist zu viel gesagt, denn ich steige jetzt in die Tube nach Bethnal Green und dann in den Bus Nr. 388 bis zu unserer Haustür.

Wie immer freue ich mich sehr über eure Kommentare.

Ich wünsche euch eine schöne Woche und bis bald.

Bye, bye,

Frank

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Kommentare von Lesern:

 
Frank, London:
18.06.2011 19:32
Hallo Volker,

tatsächlich wäre das ein schwieriges Gespräch geworden, vor allem, weil ich nicht dabei war. Außerdem bin ich sowieso nicht so scharf auf Problemgespräche. Diese Woche hatte ich mit Josh allerdings ein ähnliches Erlebnis, aber dazu mehr in meinem nächsten Tagebucheintrag.

Viele Grüße von der Themse,

Frank
Volker aus Kassel:
15.06.2011 16:09
Hallo Frank ich finde Problemgespräche mit Kindern immer sehr schwierig. Kinder verstehen die Dinge ganz anders als sie ein Erwachsener verstehen würde. Bei einigem, dass mir wichtig ist habe ich das Gefühl, es wird komplett ausgeblendet, anderes arbeitet in den Kleinen Monate...

Warum führt deine Frau nicht das Gespräch? Du hast den Ausbruch doch gar nicht erlebt. Das finde ich eher künstlich wenn du Josh jetzt drauf ansprichst.

Wenn du mit Josh sprichst würde ich versuchen, von mir zu erzählen, wie es mir geht wenn mein Sohn mir sagt, er will nicht mehr bei seinen Eltern leben. Das mich das traurig macht aber dass ich verstehen kann dass es Momente gibt in denen es nicht leicht ist für ihn. Vielleicht kennst du aus deiner späteren Jugend ähnliche Probleme mit deinen Eltern? Erzähl im davon und davon, wie du als Kind dich verhalten hast. Du bist für deinen Sohn wahrscheinlich das wichtigste Vorbild das er hat und er wird sich vermutlich sehr dafür interessieren wie du Probleme gelöst hast.

Von meinen Jungs kenn ich es übrigens, dass diese Gespräche einen sehr einseitigen Verlauf nehmen: Die Eltern reden, die Kinder schweigen und wollen ganz schnell weg. Es soll auch andere Kinder geben, das habe ich selbst aber noch nicht erlebt.

Viel Glück!

Tagebuch Frank H. Diebel

Frank H. Diebel
Alter: 44 Jahre
Wohnort: London
Beruf: Journalist
Familienstand: verheiratet
Geburtstag Kind: Finn: 23.10.00; Josh: 2.9.02
Letzter Eintrag: 19.12.2011

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