Sechs Stunden – ein voller Arbeitstag
Zwei Stunden später zur Arbeit gehen oder zwei Stunden früher Feierabend machen, mehr Zeit für Kinder, Freunde oder Sport, und dabei auch noch genauso viel verdienen wie zuvor: Das klingt wie ein alter gewerkschaftlicher Traum. Für die Beschäftigten mehrerer Altenheime und Kliniken der schwedischen Großstadt Göteborg ist dieser Traum im Februar 2015 in Erfüllung gegangen. Pfleger oder Krankenschwestern arbeiten dort nur noch sechs Stunden pro Tag - bei vollem Lohnausgleich.
Angeschoben hat das Projekt Göteborgs Linkspartei, die die Kommune zusammen mit Sozialdemokraten und Grünen regiert. Hintergrund waren Berichte, die besonders starke körperliche wie psychische Belastungen beim städtischen Pflegepersonal festgestellt hatten. Die Unterstützer des innovativen Modells streichen die Vorteile heraus: Die Mitarbeiter/innen haben mehr Zeit für ihre Patienten, sie fühlen sich weniger gestresst und sind deutlich seltener krank. Erste Analysen hätten ergeben, dass der Sechs-Stunden-Tag tatsächlich eine Erfolgsgeschichte werden könne, glaubt Anders Hyltander, Gebietschef des übergeordneten Universitätskrankenhauses. Vor der Einführung kürzerer Arbeitszeiten klagten die Pflegeabteilungen über Fachkräftemangel: “Nun klopfen die Leute an und wollen hier arbeiten, unsere Rekrutierungsprobleme haben sich enorm vermindert.”
Bessere Organisation rechnet sich
Das Experiment kostet aber auch Geld, denn parallel wurden zusätzliche Stellen geschaffen. Die jährlichen Gesamtkosten von umgerechnet knapp einer Million Euro sollten eigentlich durch die höhere Produktivität der Beschäftigten ausgeglichen werden. Doch ganz so leicht geht diese Rechnung bislang nicht auf. In der Anfangsphase habe man das ambitionierte Ziel verfehlt, geben Kliniken wie Politiker zu. Das soll sich aber ändern - ohne dabei zusätzlichen Stress beim Pflegepersonal auszulösen. “Es geht nicht darum, schneller zu arbeiten, sondern darum, besser organisiert zu sein, sagt Krankenhausleiter Hyltander. Sein einfaches Credo: Ausgeruhte Beschäftigte leisten mehr als erschöpfte.
Ein Glaube, dem sich die bürgerliche Opposition in Göteborgs Stadtrat nicht anschließen will. Schon nach einem Jahr versuchte sie mit Unterstützung der rechtsnationalen Schwedendemokraten, das “populistische Linksprojekt” vorzeitig zu stoppen. Der Antrag wurde am Ende abgelehnt, die Erprobung des ungewöhnlichen Zeitmodells bis Februar 2017 verlängert. Ein Forschungsbericht soll nun klären, ob die positiven Effekte der Arbeitszeitverkürzung überwiegen. Rückenwind erhalten die Initiatoren durch das enorme Medienecho: Zeitungen, Radiosender und Fernsehstationen aus aller Welt haben über “Göteborgs Sechs-Stunden-Tag” berichtet.
Kurze Vollzeit: Gut für Familie und Job!
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Kürzere Arbeitszeiten sind gut für die Familie, die Gesundheit – und die Produktivität! Im schwedischen Göteborg wird ein solches Modell erprobt. Gibt es für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung („kurze Vollzeit“) auch in Deutschland Chancen?
Arbeitszeitverkürzung ist notwendig!
Beispiele von Versuchen, den alten Gewerkschaftstraum kürzerer Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich zu verwirklichen, entfalten stets eine enorme Strahlkraft. In Deutschland zeigte sich dies in den 1990er Jahren nach der Einführung der 28,8-Stunden-Woche im Volkswagen-Konzern. Eigentlich nur als Instrument der “Beschäftigungssicherung” gedacht, stellten die Automobilwerker überrascht fest, wie viel an Lebensqualität sie durch die verkürzten Schichtdienste gewannen. Entgegen der in Boulevardzeitungen verbreiteten Klischees, die von angeblich überfüllten Baumärkten berichteten, nutzten gerade Väter die erweiterten zeitlichen Spielräume, um in ihrer Familie stärker präsent zu sein.
Übrig geblieben ist von solchen Ideen leider wenig. Die Industriegewerkschaft Metall (IGM) hat gerade eine neue Arbeitszeitkampagne gestartet. “Mein Leben. Meine Zeit. Wir denken Arbeit neu”, lautet der nebulös klingende, wenig präzise Titel. Der IGM-Vorsitzende Jörg Hofmann spricht von einem “Mega-Thema”, das aber “so viele Facetten” habe, dass kein Spielraum für allgemein kürzere Arbeitszeiten bestehe. Mittelpunkt der Kampagne sind daher ehrbare, doch brav klingende Detailforderungen wie “den Verfall von Überstunden bekämpfen”, “Schichtsysteme humaner gestalten” oder “mobile Arbeit regeln”.
Ein Modell für Deutschland?
Die Zurückhaltung hat Methode. Schon Hofmanns Vorgänger Detlev Wetzel beschränkte sich weitgehend auf verbale Rhetorik, ohne Taten folgen zu lassen. 2014 gab er den führenden deutschen Zeitungen ein imageförderndes Interview nach dem anderen. Immer wieder bezog sich der damalige IGM-Chef auf eine groß angelegte Online-Befragung unter über 500.000 (vorwiegend männlichen) Gewerkschaftsmitgliedern. Die nämlich hatte ergeben, dass die Beschäftigten selbstbestimmter arbeiten wollen und auch Väter die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als ein drängendes Thema ansehen. Wetzel lobte in seinen öffentlichen Äußerungen deshalb stets die Pläne von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die für Eltern eine mit einem “Familiengeld” unterstützte Wochenarbeitszeit in einem Korridor zwischen 28 und 36 Stunden vorgeschlagen hat.
Sogar ein Plakat ließ die IG Metall in diesem Zusammenhang entwerfen. Auf dem forderten zwei Kinder - in Anlehnung an den bekannten Slogan “Samstags gehört Vati mir” aus den 1950er Jahren - nunmehr “Nachmittags gehören Mutti und Vati mir!” Gebraucht wurde das Motiv bisher nicht, denn in den folgenden Tarifverhandlungen für die Metallindustrie spielte das Thema Arbeitszeitverkürzung überhaupt keine Rolle. Die größte deutsche Einzelgewerkschaft verlangte wie üblich eine kräftige Lohnerhöhung, daneben stand immerhin noch die Forderung nach einem Recht auf Bildungsteilzeit.
Care-Arbeit wird selten bezahlt
In Deutschland propagieren kirchliche Verbände schon lange das Leitbild einer “Tätigkeitsgesellschaft”, die auch die unbezahlt geleistete Care-Arbeit einbezieht und mit der Idee eines garantierten Grundeinkommens verknüpft. Anders als in zivilgesellschaftlichen Organisationen fehlt in Gewerkschaften und Parteien dieser umfassende, das “ganze Leben” betrachtende Ansatz. Die Reduzierung der Arbeitszeit für alle steht schlicht nicht auf der Agenda. Es sei derzeit “schwierig, in Deutschland eine gewerkschaftliche Kampagne für die 30-Stunden-Woche zu machen”, glaubt Steffen Lehndorff. Wegen der Vielfalt der Lebenslagen könne man “nicht mit einer einzigen Zahl operieren”. Der IAQ-Forscher empfiehlt, “lange Vollzeit zu skandalisieren und kurze Vollzeit attraktiv zu machen” - etwa durch das von Ministerin Schwesig vorgeschlagene Familiengeld oder durch Steuernachlässe für niedrige Einkommen. Die widersprüchlichen Signale aus der IG Metall bezeichnet Lehndorff wohlwollend als “Suche” - eine optimistische Interpretation, die sich in Brüssel nicht alle Beteiligten zueigen machten. Die Abschlusserklärung verlangt dezidiert “eine Verkürzung der Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich zumindest für die unteren Einkommensgruppen und vollem Personalausgleich”.
Thomas Gesterkamp
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