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Gleichstellung: Männer brauchen Emanzipation


Gleichstellung: Männer brauchen EmanzipationBild: david-w-@photocase.de

Es gibt in Deutschland einen Gleichstellungsbericht. Schon den zweiten! Und erstmals thematisieren Sachverständige auch männliche Anliegen. Doch viele Themen bleiben ausgespart: Gesundheit, die deutlich höhere Selbstmordrate, kürzere Lebenserwartung, ungesunde Lebensweise und die Bedrohung durch Obdachlosigkeit. Zeit, dass PolitikerInnen Männer endlich ernst nehmen!

Mind the Gap


“Gap” ist das englische Wort für “Kluft” oder “Lücke” und einer der Lieblingsbegriffe jener hochkarätig besetzten Kommission aus Wissenschaft und Politikberatung, die in den letzten Jahren interdisziplinär Material zum Geschlechterverhältnis gesammelt hat. Ein mehrere hundert Seiten starker Bericht, der unter dem Titel “Erwerbs - und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten” als Broschüre erhältlich und auch im Netz abrufbar ist, dokumentiert den Stand der Gleichstellung von Männern und Frauen im Jahr 2017.

Vom Gender Pay Gap ist in dem Gutachten die Rede, ebenso anglizistisch vom Gender Lifetime Earnings Gap, vom Gender Pension Gap oder vom Gender Time Gap. Zu deutsch: Überall tut sich ein Gefälle, eine Kluft zwischen den Geschlechtern aus - zu Lasten der Frauen. Sie verdienen im Durchschnitt 21 Prozent weniger (im öffentlichen Dienst beträgt der Unterschied übrigens nur sechs Prozent). Ihr Gesamteinkommen im Lebensverlauf ist sogar 49 Prozent niedriger, sie haben um 53 Prozent geringere eigene Rentenansprüche. Und ihre bezahlte Wochenarbeitszeit ist 8,2 Stunden kürzer, ebenfalls eine Lücke von 21 Prozent.

Erwerbsarbeit und unbezahlte Sorge


Den zuletzt erwähnten Gender Time Gap könnte man vorschnell nicht nur als Nachteil, sondern auch als Privileg interpretieren, die eigene Zeit souverän und eigenständig nutzen zu können - wäre da nicht die unbezahlte private Sorgearbeit, die die neue Expertise besonders ausführlich herausstellt. Der Gender Care Gap nämlich beträgt 52 Prozent, bei Paaren mit Kindern sogar 83,3 Prozent. In diesem Bereich gibt es also die größte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern: Frauen leisten erheblich mehr als Männer im Haushalt, bei der Erziehung von Kindern und bei der Pflege älterer Angehöriger.

Das Gutachten zum Zweiten Gleichstellungsbericht legt wie sein Vorgänger aus dem Jahr 2011 den Schwerpunkt auf den (Erwerbs-)Arbeitsmarkt, auf die daraus abgeleiteten sozialpolitischen Ansprüche sowie auf das Steuer-, Ehe- und Familienrecht. Diese “konturierte” Betrachtungsweise der Kommission hat Stärken, weil die fortbestehenden Benachteiligungen von Frauen in zentralen Bereichen herausgearbeitet werden. Die Schwäche liegt darin, dass andere Politikfelder kaum vorkommen. Ausgerechnet dort aber sind die Gaps, die Differenzen zwischen den Geschlechtern, längst nicht so eindeutig. Teilweise liegen die Schattenseiten sogar auf der anderen Seite, bei den Männern.

Hitparade der Männer-Benachteiligung


Ein prägnantes Beispiel dafür ist der bislang noch nicht so benannte “Gender Life Expectation Gap”: Männer haben in Deutschland eine über fünf Jahre kürzere Lebenserwartung als Frauen. In der Nachkriegszeit lag diese Differenz sogar bei acht Jahren, in Teilen Osteuropas beträgt das Gefälle nach wie vor bis zu 15 Jahre. Die Klosterstudie des österreichischen Demografen Marc Luy, der die vergleichbaren Biografien von Nonnen und Mönchen untersucht hat, ergibt einen biologisch bedingten Geschlechterunterschied von nur einem Jahr. Alles andere also ist soziale Konstruktion, hat mit der Art zu tun, wie Männer leben, arbeiten, mit ihrem Körper umgehen. Sie gehen seltener zum Arzt, vermeiden Vorsorgeuntersuchungen; sie haben körperlich ruinöse Jobs in der (Schwer)Industrie und auch in prekären Dienstleistungssektoren; sie ernähren sich ungesünder, rauchen und trinken mehr. „Männer weinen heimlich, Männer kriegen ‘nen Herzinfarkt“, hieß das knapp zusammengefasst im Gesang des Ruhrgebietspoeten Herbert Grönemeyer.

Die gravierenden Folgen der Devise “Indianer kennen keinen Schmerz” müssten eigentlich einen gewichtigen Stellenwert haben in einem Gleichstellungsbericht, der seinen Namen verdient und die “Lebensverlaufsperpektive” zum zentralen Konzept erklärt. In dem jetzt vorgelegten Gutachten aber ist das keineswegs der Fall! Das Thema Männergesundheit taucht zum Beispiel so gut wie nicht auf. Die Liste der entstehenden Lücken lässt sich daher ergänzen: etwa um den “Gender Suicide Gap”, der mehr als dreimal höheren männlichen Selbstmordrate. Oder um den “Gender Homeless Gap”*: Erheblich mehr Männer als Frauen leben auf der Straße. Eine geschlechterdialogisch orientierte Politik sollte dennoch vermeiden, hier nur den einseitigen Blick anzuprangern - und in eine unproduktive Hitparade der Benachteiligung einzusteigen.

Männer weinen nicht


Doch weil diese Männeraspekte in den meisten gleichstellungspolitischen Kontexten nur selten debattiert werden, ist ein Vakuum entstanden, das Maskulinisten polemisch füllen. Antifeministische Männerrechtler, die hierzulande in Gruppen wie MANNdat oder Agens organisiert, aber vor allem im Internet als angebliche “Graswurzelbewegung” präsent sind, inszenieren sich als Opfer und Benachteiligte in nahezu jeder Lebenslage. Verschwörungstheoretisch wähnen sie sich in einem von der “Gender-Ideologie” geprägten “Umerziehungsstaat”, programmatisch (und teilweise auch schon parlamentarisch) unterstützt werden sie von der rechtspopulistischen AfD.

Das aktuelle Gutachten im Auftrag der Bundesregierung bemüht sich, das Geschlechterverhältnis umfassend zu beleuchten. Als “roten Faden” nennt die Kommission, das “Erwerbs- und Sorge-Modell für Frauen und Männer in ihrer Vielfalt zu ermöglichen”. In diesem Verständnis sei Gleichstellungspolitik “auch für viele Männer wichtig und die enthaltenen Handlungsempfehlungen haben positive Auswirkungen auf ihre Lebensrealitäten”. Die Sachverständigen fordern explizit, dass “Strukturen erkannt und beseitigt werden, die Männer aufgrund des Geschlechtes an der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe hindern”. Sie erwähnen zum Beispiel die überlangen männlichen Arbeitszeiten im Beruf, das wachsende Engagement von Männern als Väter und bei der Pflege von Familienangehörigen sowie die besonderen Schwierigkeiten der überwiegend männlichen Geflüchteten. Das diese Aspekte im Zweiten Gleichstellungsbericht zumindest auftauchen, ist ein Fortschritt gegenüber der ersten Expertise - und ganz im Sinne einer emanzipatorischen Geschlechterpolitik, die Männer nicht nur gönnerinnenhaft als Unterstützer “einbezieht”, sondern als eigenständige Akteure anerkennt.

Thomas Gesterkamp

* Alle hier aufgeführten Männer-GAPs wurden von Thomas Gesterkamp so benannt, sie finden sich ausdrücklich nicht im Zweiten Gleichstellungsbericht.

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