"Kinder bewerten das Wechselmodell positiv"
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Der Europarat hat das Wechselmodell nach der Trennung der Eltern empfohlen. Seitdem wird landesweit diskutiert, wie Eltern ihre Erziehungsverantwortung am besten wahrnehmen. Prof. Dr. Hildegund Sünderhauf hat das Wechselmodell in psychologischer wie juristischer Sicht erforscht. Ralf Ruhl sprach mit ihr über die Doppelresidenz nach der Trennung.
Kinder brauchen Beziehungskontinuität
Frau Prof. Dr. Sünderhauf, was sind die wesentlichen Vorteile des Wechselmodells?
Die Doppelresidenz hat nach einer Trennung für Kinder wie für Eltern viele Vorteile. Am wichtigsten für die Kinder: Sie können eine gleich starke Bindung an beide Eltern behalten bzw. entwickeln. Empirische Studien haben nachgewiesen, dass diese bei Eltern, die das Wechselmodell praktizieren, ebenso intensiv ist wie in intakten Familien. Das ist überaus wertvoll. Die Kinder fühlen sich dann nicht ungeliebt oder von einem Elternteil im Stich gelassen, sie haben weniger oder auch gar keine Loyalitätskonflikte. Das bewerten Kinder sehr hoch. Studien mit jungen Erwachsenen, die als Kinder in Trennungsfamilien lebten, zeigen, dass diese das Wechselmodell sehr positiv bewerten.
Bedeutet das aber nicht zu viel Wechsel für die Kinder? Brauchen die nicht einen festen Heimatort?
Kinder brauchen Kontinuität, vor allem Beziehungskontinuität. Sie haben den größten Teil ihres Lebens mit beiden Eltern verbracht und mit der Trennung verschwindet einer der beiden zu einem großen Teil aus ihrem Leben oder wird zum Besuchsvater/-mutter degradiert - das bedeutet einen schweren Bruch der Beziehungskontinuität. Außerdem: Auch beim Residenzmodell mit Wochenendbesuchen sind die Kinder mal beim Vater und mal bei der Mutter. Allerdings sind quantitativ und qualitativ die Zeiten sehr unterschiedlich. Wenn ein Elternteil nur noch für Freizeit und Ferien zur Verfügung steht, fehlt ein wesentliches Element des gemeinsamen Lebens: der Alltag. Demgegenüber ist die zeitliche Aufteilung nebensächlich. Ob 50:50 oder 70:30 - gemeinsam den Alltag von Frühstück bis Socken waschen, von Kuchen backen bis Gute-Nacht-Geschichte erleben, das ist es was Kinder mit beiden Elternteilen brauchen.
Wechselmodell trägt zur Deeskalation bei
Werden durch häufigen Wechsel nicht die Konflikte der Eltern verstärkt?
Da muss man fragen, was führt zu Konflikten, wie sind die entstanden? Häufig sind es Konflikte um die Betreuung des Kindes, die zu Eskalationen führen. An zweiter Stelle stehen die Uneinigkeiten über die Finanzen. Beim Residenzmodell gewinnt ein Elternteil, meist die Mutter, den Kampf ums Kind. Sie hat die Vorherrschaft, sie darf bestimmen, wo und wie es lebt und sein Lebensumfeld hauptsächlich gestalten. Der andere Elternteil, meist der Vater, ist der Verlierer. Er wird zum Besuchsvater degradiert, er hat weniger Zeit mit dem Kind, weniger Einfluss, weniger Mitbestimmungsrechte. Er fühlt sich ausgeschlossen und das befeuert Konflikte. Im Wechselmodell wird keiner ausgeschlossen, beide Eltern sind gleichwertig. So kann es zur Deeskalation beitragen. Es gibt natürlich die Notwendigkeit, Absprachen zu treffen - aber die braucht es auch beim Residenzmodell. Ob für zwei oder für fünf Tage: Da müssen Taschen ein- und ausgepackt werden, man muss sich darauf verlassen können, dass der andere das Kind rechtzeitig abholt usw. Konflikte der Eltern schaden Kindern immer. Aber das Wechselmodell bedeutet nicht, dass es mehr oder schlimmere Konflikte gibt oder dass die Kinder damit stärker in Berührung kämen. Wenn die Eltern ihre Kinder instrumentalisieren wollen, kommt es nicht auf das Betreuungsmodell an.
Der Europarat hat empfohlen, dass die Mitgliedstaaten der EU das Wechselmodell als Standard nach Trennung und Scheidung etablieren mögen...
Die Resolution des Europarates ist sehr zu begrüßen. Das Wechselmodell als Standard einzuführen bedeutet jedoch nicht, dass alle Eltern ihre Kinder im Wechselmodell betreuen müssen. Es geht nicht darum, allen Eltern ein Modell aufzudrücken. Wesentlich ist der Paradigmenwechsel: Politik, Gerichte und die Eltern sind aufgefordert zu schauen, wie Vater und Mutter im Alltag des Kindes präsent bleiben können und wie das Kind am Alltag beider Eltern teilhaben kann. Wenn die Eltern sehr weit auseinander wohnen ist ein Wechselmodell nicht zu praktizieren. Dann gelingt es vielleicht mit häufigen Wochenendkontakten. In Deutschland wird immer noch per Gericht ein Elternteil aus der Familie entfernt, in der Regel muss der Vater in die zweite Reihe treten. Das hat der Europarat zu Recht gerügt. Die Resolution ist nicht bindend, sie ist aber ein bedeutsames Signal. Ich glaube, das ist auch im Justiz- und Familienministerium angekommen.
Verantwortung endet nicht mit der Trennung
Welche Gesetze sind noch zu ändern, damit das Wechselmodell gleichberechtigt neben dem Residenzmodell stehen kann?
Ich wünsche mir eine Reform des BGB (Bundesgesetzbuch), die ausdrücklich eine Empfehlung des Wechselmodells vorsieht. Letztendlich ist natürlich immer der Einzelfall entscheidend. Auch nach bisheriger Gesetzeslage ist das Wechselmodell möglich, eine Verankerung im BGB wäre jedoch ein wichtiges Zeichen. Das hatten wir schon mehrfach, zum Beispiel beim Verbot, Kinder mit Gewalt zu erziehen. Das ist in erster Linie ein Signal in die Gesellschaft und hat erst in zweiter Linie juristische Konsequenzen. Das wünsche ich mir auch für das Wechselmodell. Wir wollen nicht, dass die Trennung auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Elterliche Verantwortung endet nicht mit der Trennung. Viele Eltern haben das erkannt und praktizieren schon ein Wechselmodell. Für die passt der legale Rahmen momentan nicht, da gibt es viele Gesetze, die nachgebessert werden müssen.
Zum Beispiel im Unterhaltsrecht.
Das ist ein solches Gebiet, aber auch im Sozialrecht ist es ein wichtiges Thema. Die Bedürftigkeitsprüfung beim Arbeitslosengeld II müsste angepasst werden, auch im Steuerrecht gibt es vieles, was entsprechend geändert werden muss. Das wird aber kommen, da bin ich sicher. Vielleicht schon in der kommenden Legislaturperiode.