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13.02.2011 4. Woche
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Draußen vor der Türe

Das Lädchen um die Ecke – Rush hour rund um die Uhr – Hupen, Drängeln, Brüllen – strikte elterliche Fesseln – Gangs in Hackney – Zucker und Wechselgeld – Rausgehen oder nicht Rausgehen?
„Okay, ich gehe dann mal ins Lädchen. Bin gleich wieder da! Tschüss!“ Mit diesen Worten zieht Finn die Tür hinter sich zu. Wir erwarten Freunde und Sue will einen Kuchen backen. Gerade ist ihr eingefallen, dass sie keinen Zucker hat. Finn bot sich sofort an, in unser Lädchen um die Ecke zu gehen, der „off licence“ wie er im Volksmund in England genannt wird. Die Londoner Version eines Tante-Emma-Ladens allerdings mit kosmopolitischen Öffnungszeiten von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr in der Nacht. Finn muss eine Straße überqueren, um dorthin zu gelangen. Was an sich kein Problem ist, denn der Verkehr in unserer Straße ist nicht sehr stark.

Eigentlich ungewöhnlich für eine Großstadt wie London. Viele Hauptverkehrstraßen hier sind pausenlos verstopft. In den 1980er Jahren gab es noch die berühmte Rush Hour von 7 bis 9 Uhr und von 17 bis 19 Uhr, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Jetzt ist in vielen Londoner Straßen Rush Hour jeden Tag rund um die Uhr, egal ob man Montagnachmittag oder Sonntagmorgen unterwegs ist. Ich bin auch schon um 1 Uhr nachts im Stau steckengeblieben. Wer nur eine kurze Strecke zurücklegen muss, ist mit dem Fahrrad besser bedient oder eben per pedes.

Und wie in vielen anderen Großstädten geht es auf Londoner Straßen zur Sache. Es wird gerast, gehupt und gedrängelt, was das Zeug hält, gestikuliert und herumgebrüllt bis zum Abwinken und auch Handgreiflichkeiten sind keine Seltenheit. Der langen Rede kurzer Sinn: keine ideale Umgebung für Kinder. Vor einigen Monaten wurde um die Ecke eine Radfahrerin von einem Lastwagen zu Tode gequetscht. An dem Geländer, wo die junge Frau ihr Leben aushauchte, befindet sich stets ein frischer Blumenstrauß. Solche grausigen Unfälle sind in Hackney leider keine Seltenheit. Man muss in London eben viermal schauen, bevor man die Straße überquert.

Natürlich können wir unsere Kinder nicht anbinden. Mein Bruder und ich verbrachten früher im zarten Alter von acht und zehn manchmal den ganzen Tag an der frischen Luft (die es in London natürlich sowieso nicht gibt). Das wäre undenkbar für Finn und Josh. Lange Zeit wussten wir nicht, wie wir mit diesem Problem umgehen sollten und entschlossen uns schlicht und ergreifend, die Kinder nicht alleine vor die Tür zu lassen. Inzwischen wurden die strikten elterlichen Fesseln ein wenig gelockert. Die Jungs dürfen jetzt alleine zum Lädchen um die Ecke gehen. Wobei ich anfangs auch dabei immer die Luft angehalten habe.

Die Frage ist: Wie soll man es mit dem Rausgehen halten? Insbesondere in einer Großstadt? Um die Sache noch komplizierter zu machen, ist Hackney auch berüchtigt für seine Gangs und viele Schüler werden auf dem Schulweg von Banden überfallen und ihrer Habseligkeiten beraubt. Das hat zur Folge, dass Kinder in Hackney meist von ihren Eltern in die Schule gebracht werden. Das ist sicher schade, aber leider unvermeidlich.

Mein englischer Freund Olli (dessen Sohn Sam in Joshs Klasse geht), der in London aufgewachen ist und nie Probleme mit Gangs hatte, meint dazu: „Du musst einfach nur ‚street smart’ sein.“ Mit anderen Worten, die Augen aufhalten und bestimmten Typen konsequent aus dem Weg gehen. Nicht auf sein Recht pochen, dunkle Gassen vermeiden, sich nicht provozieren lassen und nicht zu viele Wertsachen dabei haben.

Nun, auffälligen Schmuck und Blackberrys haben meine Kinder sowieso nicht. Und wie ich mit Erstaunen feststellte, wissen die Buben intuitiv schon fast, was „street smart“ bedeutet. Ich bin sicher, dass sich dieses Wissen in den nächsten Jahren noch verfeinern wird. Außerdem bilde ich mir ein, dass meine Jungs sozusagen „von Natur aus“ vorsichtig sind und nicht einfach über die Straße rennen und dergleichen. Sie sind ja in London aufgewachsen.

Finn kehrt nach einigen Minuten voller Stolz mit Zucker und Wechselgeld zurück. Aufgrund seines Asperger ist es für ihn besonders wichtig, (auch kleine) Erfolgserlebnisse zu haben. Und alleine einkaufen zu gehen, ist so ein Erfolgserlebnis, insbesondere, weil Josh sich das alleine noch nicht traut. Also bin ich stolz, wenn Finn stolz ist. Umso mehr, weil Alltagsdinge, die vielen Kindern zufallen, für Finn manchmal eine Herausforderung sind. Es dauerte lange bis er sich ohne Probleme alleine anziehen konnte und mit dem Einschlafen hat er heute noch Schwierigkeiten, weil er abends oft sehr aufgedreht ist.

Aber das sind alles Dinge, die er gemeistert hat. Nur denke ich mit Schrecken daran, wie es werden soll, wenn er älter ist und abends ausgehen will. Ich habe keine Ahnung, wie wir das machen sollen. Sollen wir ihn überall mit dem Auto hinbringen? Ich bin sicher, dass er das irgendwann nicht mehr will. Es wäre spannend zu hören, wie Ihr das gemacht habt? Lasst Ihr eure Kinder alleine vor die Tür? Müssen sie um eine bestimmte Uhrzeit Zuhaue sein? Lasst Ihr sie alleine oder nur mit Freunden ausgehen?

Bislang habe ich was das rausgehen betrifft fast schon eine Vogel-Strauß-Politik betrieben und den Kopf in den Sand gesteckt. Aber lange wird das wohl nicht mehr gut gehen.

So, ich könnte noch ewig weiterschreiben, aber ich muss Schluss machen.

Ich wünsche Euch eine schöne Woche und viele Grüße von der Themse,

Frank



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Kommentare von Lesern:

 
Frank, London:
17.02.2011 18:01
Danke für Eure Kommentare. Es ist wirklich sehr aufschlußreich zu lese, was Euch so durch den Kopf geht. Tatsächlich haben sich die Zeiten geändert und es ist interessant, dass das sowohl in England als auch in Deutschland der Fall ist. Meine Frau ist übrigens in Birmingham aufgewachsen und sie verbrachte auch einen Großteil ihrer Kindheit draußen mit ihren Freundinnen. Es lief also vor 30 Jahren auch hier anders.

Ich verrmute, dass dem Thema Erziehung heute wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als das zu meiner Kindheit der Fall war. Viele Dinge wurden damals einfach nicht so intensiv diskutiert. In meinen Augen ist heute auch der Erwartungsdruck für Eltern höher. Alle müssen dauernd super sein, sowohl die Eltern als auch die Kinder. Fehler soll und darf es nicht geben, obwohl man ja nur aus Fehlern lernt.

Auch das Thema Kriminalität spielt im Jahr 2011 eine viel größere Rolle als das noch 1976 der Fall war. Heute glauben leider viele Menschen, dass ihnen an jeder Ecke ein Ganove auflauern könnte. Daran sind zum Teil auch die Medien Schuld, denn es gibt jetzt rund um die Uhr ein Dauerfeuer an Katastrophen-Nachrichten. Das erzeugt einfach subjektive Angstgefühle. In Wirklichkeit dürfte die Kriminalität eher gesunken als gestiegen sein.
Klingone, Northeim:
17.02.2011 10:43
Eltern haben mehr Schiss, klar. Aber teilweise auch zu recht. Der Verkehr hat um über 100% zugenommen seit meiner Kindheit, Autos parken alles zu, freie Flächen, Brachen, gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite ist - jedenfalls in Deutschland - eine Sicherungs- und Regelungswut ausgebrochen. Jedes Spielplatzgerät muss TÜV-geprüft sein, sonst kann es juristische Prozesse geben, wenn ein Kind sich einen Splitter einreißt. Allerdings ist die Erhöhung der passiven Sicherheit - Helm beim Fahrradfahren, sicheren Kindersitz, Begleitung auf Wegen zu Schule und Kita - das einzige, was Eltern selbst tun können. Dem Verkehr, den Banden, denen können sie begegnen, sie aber nicht an- oder abschnallen wie einen Helm. Und es gibt weniger Kinder, daher steigt ihr Wert. War es zu unserer Großeltern Zeit normal, dass eins von drei Kindern starb und die Mutter im Kindbett gleich dazu, so ist heute alles Unperfekte ein Riesendrama. Was häufig allerdings von außen an die Eltern herangetragen wird, durch böse Blicke der anderen Eltern, durch Medien, die zeigen, wie perfekte Eltern perfekte Kinder nobelpreisverdächtig großziehen. Da wundert mich ein "In-Watte-packen-Wahn" von Eltern gar nicht. Was es allerdings auch nicht besser macht. Heutzutage stammen die meisten Verletzungen von Kindern daher, dass sie sich nicht mehr richtig bewegen können, nicht ausweichen oder abrollen können, sagen die Versicherer. Womit das Risiko wieder bei den Eltern liegt - sie können es nur falsch machen. Aber der wesentliche Indikator sollte das Glücksgefühl der Kinder sein.
Volker kassel:
16.02.2011 11:47
Irgendwie komisch, wie sich die Zeiten geändert haben: Als Kind habe ich schon lange bevor ich in die Schule kam stundenlang mit Freunden draußen/auf der Straße gespielt. Heute gibt es das für die Kids nicht mehr. Das es nochmal was anderes ist in schwierigen Vierteln in einer Großstadt ist ja klar. Aber die Eltern haben einfach mehr Schiß als früher glaub ich. Woran liegt das bloß?
Gerd, Norddeutschland:
14.02.2011 11:31
Hallo Frank,
Noch ist unsere Große mit 5,5 Jahren noch nicht so groß, dass sie alleine raus darf. Aber was machen wir, wenn sie nächstes Jahr in die Schule kommt? Die ist zwar nur ein paar hundert Meter weiter, aber über eine große Straße rüber. Und zudem auch noch in einem Viertel, das nicht das beste ist (gibt es auch in Deutschland). Die erste Zeit, vermutlich die ersten 2 Jahre werden wir sie holen und bringen – und dann? Keine Ahnung.

Aber die Probleme sind schon hier vor der Tür. Wir wohnen zwar in einem verkehrsberuhigen Viertel, wo in den so genannten „Spielstraßen“ die Fußgänger absoluten Vorrang haben und Autos nur Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen. Aber was bringt das, wenn die Postautos u.ä. mit 50-60 Sachen durch brettern? Und das sind nicht die einzigen …..

Tagebuch Frank H. Diebel

Frank H. Diebel
Alter: 44 Jahre
Wohnort: London
Beruf: Journalist
Familienstand: verheiratet
Geburtstag Kind: Finn: 23.10.00; Josh: 2.9.02
Letzter Eintrag: 19.12.2011

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