24-Stunden-Kita
Bild: markusspiske - photocase.de
Vor allem in den östlichen Bundesländern öffnen Kindertagesstätten rund um die Uhr. Die Politik lobt die Idee als hilfreiches Angebot für Schichtarbeiter und Alleinerziehende. Doch es gibt Streit um die 24-Stunden-Kita: Vor allem Gewerkschaften und Kirchen äußern Kritik.
Eltern wollen flexible Kita-Öffnungszeiten
Nachmittags ab vier werden allmählich die Stühle hochgestellt. Immer mehr Mütter und Väter treffen ein, Kinder laufen ihnen fröhlich entgegen. Die Erzieherinnen freuen sich auf den freien Abend, um Punkt fünf schließt die Einrichtung ihre Pforten. Kita-Alltag seit Jahrzehnten, vor allem im Westen Deutschlands. Doch die Idylle täuscht. Denn immer mehr erwerbstätige Eltern hadern mit diesen starren Öffnungsregeln, wünschen sich mehr Flexibilität.
Schwedt in Brandenburg, eine Industriestadt an der Oder in der Nähe der polnischen Grenze. Auch bei den "Schnatterenten” ist es nach 16 Uhr ruhiger geworden. Doch hier werden um diese Zeit nicht nur Kinder abgeholt, sondern auch neue gebracht. Die von Doreen Haase zum Beispiel. Für die alleinerziehende Mutter beginnt in einer Stunde die Schicht im Callcenter. Sohn und Tochter wird sie deshalb erst am nächsten Morgen wiedersehen - mitten in der Nacht macht es wenig Sinn, sie aus dem Schlaf zu reißen. Sie liebe ihre Kinder, doch in der strukturschwachen Region hatte sie nur die Wahl zwischen dem Abendjob und Hartz IV. Die Kinderbetreuung über Nacht außer Haus findet sie "nicht ideal”; das helfe ihr aber, einen gewissen Lebensstandard selbst zu erwirtschaften.
Ohne Abholstress die Arbeit beenden
Kirchdorf am südlichen Rand von Hamburg, ein Stadtteil, der von kleinen Eigenheimen, teils auch von Hochhäusern geprägt ist. Die "Krümelkiste” bietet ebenfalls ungewöhnliche Öffnungszeiten an. "Wenn Bedarf besteht, können die Kinder auch hier schlafen”, betont Kita-Leiterin Silvia Cihak. In der Praxis komme das jedoch eher selten vor. Viel wichtiger für die Eltern sei die Garantie, dass die Einrichtung nicht zu einem fest fixierten Termin komplett dichtmacht.
Arne Bergmann* zum Beispiel nutzt das 24-Stunden-Konzept der "Krümelkiste” als zeitlichen Puffer gegen Staus auf der Autobahn. Wird es deutlich später als ursprünglich erwartet, kann der alleinerziehende Lastwagenfahrer in Ruhe seine Tour beenden und danach entspannt sein Kind in Empfang nehmen. Gegen 21 Uhr, berichtet Einrichtungsleiterin Cihak, verlassen in der Regel auch die letzten kleinen Besucher/innen ihre Kita. Übernachtungen seien eben "die große Ausnahme”, es gehe vor allem um die Ausweitung der sogenannten Randzeiten.
Erziehung nach Schichtplan
Manche Eltern starten um sechs Uhr morgens in ihre Schicht, andere wünschen sich eine größere Flexibilität der Tagesstätte am Vormittag. Stefan Häusler ist als selbständiger Projektarbeiter nicht an einen starren Stundenplan gebunden. Er möchte nach dem Aufstehen erst mal "Zeit mit dem Kind verbringen und nicht gleich in die Kita hetzen”. Ähnlich argumentiert Kirsten Mahling, eine Alleinerziehende, die freiberuflich als Künstlerin tätig ist. Wichtiger als ein Betreuungsangebot am frühen Morgen wäre für sie, "bei Abendveranstaltungen, wie etwa einer Vernissage, mein Kind gut untergebracht zu wissen”.
In die Hamburger "Krümelkiste” können Kinder auch erst um 11 oder 12 Uhr kommen. Optimal für die organisatorischen Abläufe in der Kita sei das allerdings nicht, gibt Silvia Cihak zu bedenken: "Aktivitäten wie Ausflüge oder bestimmte Sportangebote finden häufig vor dem Mittagessen statt.” Der Rund-um-die-Uhr-Betrieb ist auch für ihre Mitarbeiterinnen eine große Herausforderung. Ohne Schichtdienste beim eigenen Personal, betont die Kita-Chefin, sei die von Eltern besonders nachgefragte zusätzliche Versorgung am späten Nachmittag und frühen Abend gar nicht zu stemmen.
Wer diktiert die Zeitverwendung?
Kinderbetreuung als perfekte Dienstleistung für hochflexible Arbeitnehmer? Hier sind auch andere Lesarten möglich: Ist es immer eine zwingende Notwendigkeit, wenn Menschen zu ungewohnten Zeiten arbeiten müssen? Wer hat auf wen Rücksicht zu nehmen? Diktiert ausschließlich das Zeitplan der Arbeitgeber, wann Erwerbstätige mit ihren Kindern zusammen sein können? Oder gibt es jenseits betrieblicher Interessen auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen und Institutionen, Eltern entgegenzukommen? Bestimmte Abend- und Nachtschichten bei der Polizei oder in Krankenhäusern sind unvermeidbar. Doch solche eher familienfeindlichen Arbeitszeiten, mahnen Kritiker etwa aus den Reihen der Kirchen und Gewerkschaften, sollten die Ausnahme bleiben und nicht zur akzeptierten Regel werden.
Unter dem Motto "Twenty four / seven” propagieren Unternehmensberater schon seit längerem ein angeblich modernes Arbeitsprinzip: stets im Einsatz, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Im Betrieb zu Hause und zu Hause online. In einer solchen Rund-um-die Uhr-Ökonomie wird es kompliziert, abzuschalten und eine klare Grenze zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu ziehen - nicht nur als Ärztin, Busfahrer oder Streifenbeamter.
Schon die übliche 40-Stunden-Woche plus Wegezeiten und freiwilliger Mehrarbeit ist für Familien ein ständiger Balanceakt - vor allem dann, wenn beide Elternteile eine volle Stelle haben. Im Westen Deutschlands wurde dieses Vereinbarkeits-Dilemma jahrzehntelang durch die strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gelöst: Der männliche Allein- oder zumindest Haupternährer hatte an seiner Seite die Hausfrau oder Zuverdienerin. Im sozialistischen Osten sollten umfangreiche Angebote staatlicher Betreuung die gleichberechtigte Berufstätigkeit ermöglichen.
Die aktuelle Debatte um die Versorgung rund um die Uhr wird in den neuen Bundesländern besonders kontrovers geführt, mit teilweise überraschenden Fronten. So will Lorenz Caffier, der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, in Rostock ein Pilotprojekt durchsetzen, das Tag und Nacht geöffnet ist. Nach dem Vorbild der Landeshauptstadt Schwerin, wo es bereits zwei solcher Einrichtungen gibt, möchte er vor allem im Schichtdienst arbeitende Eltern entlasten. Ein ehrbares Ziel, doch Steffen Bockhahn, der Sozialsenator der Hansestadt, zögert mit seiner Zustimmung. Bedenken hat der Politiker der Linkspartei nicht nur wegen der unklaren Finanzierung des Vorhabens, er verweist auch auf das Kindeswohl.
Eine seitenverkehrte Welt? Waren es doch einst überwiegend konservative Meinungsführer, die gegen die "Fremdbetreuung” wetterten - während andere, eher progressive Kräfte vehement den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen unterstützten. In dem derzeitigen Streit sind die alten polarisierten Kontroversen Vergangenheit. Der Disput dreht sich im Kern um ein sozialethisches Thema: Wie sehr darf Erwerbsarbeit das Privatleben dominieren?
Aus guten Gründen hat die Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit gestreikt. Der heute altmodisch klingende Begriff "Feierabend” markiert seither eine historische Errungenschaft, ein persönliches Refugium. Denn Spielräume für Familie und Freunde, für Hobbys oder Ehrenämter können sich nur ergeben, wenn das Private nicht zum Restposten verkommt, sich Lebensentwürfe nicht vollständig der entlohnten Tätigkeit unterordnen müssen.
Das Engagement der Kirchen für den freien Sonntag, der Widerstand der Gewerkschaften gegen unnötige Samstagsarbeit, der Versuch von Betriebs- und Personalräten, abendliche Überstunden einzuschränken: Das waren und sind keine nostalgischen Kämpfe, sondern wichtige Elemente einer Auseinandersetzung, in der Beschäftigte der Arbeitswelt als einzigem Taktgeber Grenzen setzen.
Eine bessere öffentliche Versorgung kann in bestimmten Berufsfeldern und Lebenssituationen dazu beitragen, Vereinbarkeitsprobleme von Müttern und Vätern zu lösen. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig plant deshalb in den kommenden drei Jahren das 100-Millionen-Programm "KitaPlus”, das bis 2018 den Ausbau der Kinderbetreuung in den Randzeiten fördern soll. Sie reagiert damit zum Beispiel auf die längeren Öffnungszeiten im Einzelhandel oder auf die flexiblen Anforderungen im Dienstleistungssektor.
Eltern, die alleine erziehen oder als Paar parallel in der gleichen, ungünstig gelegenen Schicht arbeiten müssen, brauchen auf sie zugeschnittene Angebote. Allerdings gibt es dafür noch andere Möglichkeiten als die Rund-um-die-Uhr-Kita: etwa den verstärkten Einsatz bezahlter Pfleger/innen, die den Nachwuchs im elterlichen Haushalt betreuen. Und Im Notfall kann auch ein kleines Kind mal eine Nacht außerhalb seiner gewohnten Umgebung verbringen.
Die aktuell diskutierte Einführung eines Nonstop-Service als Standardangebot setze ein falsches Signal, meint Norman Heise, Vorsitzender der Landeselternvertretung in Berlin. "Die Unternehmen sollten von ihren Mitarbeitern gar nicht verlangen können, dass sie ihre Kinder über Nacht zurücklassen”, kritisiert er. Die Familie habe sich nicht einseitig nach den Vorgaben der Wirtschaft zu richten. Eine 24 Stunden-Betreuung der Kinder liegt so gesehen keineswegs im Interesse der Eltern: Sie dient vorrangig jenen Betrieben, die trotz machbarer Alternativen unbedingt an ihren gewohnten Zeittakten festhalten wollen: Vereinbarkeit betrachten sie als individuelles Problem, das die Kita-Anbieter mit Turbo-Dienstleistungen lösen sollen.
* Namen teilweise geändert
Thomas Gesterkamp
Erreichbarkeit treibt Familien über die Grenze
Schon die übliche 40-Stunden-Woche plus Wegezeiten und freiwilliger Mehrarbeit ist für Familien ein ständiger Balanceakt - vor allem dann, wenn beide Elternteile eine volle Stelle haben. Im Westen Deutschlands wurde dieses Vereinbarkeits-Dilemma jahrzehntelang durch die strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gelöst: Der männliche Allein- oder zumindest Haupternährer hatte an seiner Seite die Hausfrau oder Zuverdienerin. Im sozialistischen Osten sollten umfangreiche Angebote staatlicher Betreuung die gleichberechtigte Berufstätigkeit ermöglichen.
Die aktuelle Debatte um die Versorgung rund um die Uhr wird in den neuen Bundesländern besonders kontrovers geführt, mit teilweise überraschenden Fronten. So will Lorenz Caffier, der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, in Rostock ein Pilotprojekt durchsetzen, das Tag und Nacht geöffnet ist. Nach dem Vorbild der Landeshauptstadt Schwerin, wo es bereits zwei solcher Einrichtungen gibt, möchte er vor allem im Schichtdienst arbeitende Eltern entlasten. Ein ehrbares Ziel, doch Steffen Bockhahn, der Sozialsenator der Hansestadt, zögert mit seiner Zustimmung. Bedenken hat der Politiker der Linkspartei nicht nur wegen der unklaren Finanzierung des Vorhabens, er verweist auch auf das Kindeswohl.
Lange Fremdbetreuung und das Kindeswohl
Eine seitenverkehrte Welt? Waren es doch einst überwiegend konservative Meinungsführer, die gegen die "Fremdbetreuung” wetterten - während andere, eher progressive Kräfte vehement den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen unterstützten. In dem derzeitigen Streit sind die alten polarisierten Kontroversen Vergangenheit. Der Disput dreht sich im Kern um ein sozialethisches Thema: Wie sehr darf Erwerbsarbeit das Privatleben dominieren?
Aus guten Gründen hat die Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit gestreikt. Der heute altmodisch klingende Begriff "Feierabend” markiert seither eine historische Errungenschaft, ein persönliches Refugium. Denn Spielräume für Familie und Freunde, für Hobbys oder Ehrenämter können sich nur ergeben, wenn das Private nicht zum Restposten verkommt, sich Lebensentwürfe nicht vollständig der entlohnten Tätigkeit unterordnen müssen.
Wann ist endlich Feierabend?
Das Engagement der Kirchen für den freien Sonntag, der Widerstand der Gewerkschaften gegen unnötige Samstagsarbeit, der Versuch von Betriebs- und Personalräten, abendliche Überstunden einzuschränken: Das waren und sind keine nostalgischen Kämpfe, sondern wichtige Elemente einer Auseinandersetzung, in der Beschäftigte der Arbeitswelt als einzigem Taktgeber Grenzen setzen.
Eine bessere öffentliche Versorgung kann in bestimmten Berufsfeldern und Lebenssituationen dazu beitragen, Vereinbarkeitsprobleme von Müttern und Vätern zu lösen. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig plant deshalb in den kommenden drei Jahren das 100-Millionen-Programm "KitaPlus”, das bis 2018 den Ausbau der Kinderbetreuung in den Randzeiten fördern soll. Sie reagiert damit zum Beispiel auf die längeren Öffnungszeiten im Einzelhandel oder auf die flexiblen Anforderungen im Dienstleistungssektor.
Alternative: Betreuung zu Hause
Eltern, die alleine erziehen oder als Paar parallel in der gleichen, ungünstig gelegenen Schicht arbeiten müssen, brauchen auf sie zugeschnittene Angebote. Allerdings gibt es dafür noch andere Möglichkeiten als die Rund-um-die-Uhr-Kita: etwa den verstärkten Einsatz bezahlter Pfleger/innen, die den Nachwuchs im elterlichen Haushalt betreuen. Und Im Notfall kann auch ein kleines Kind mal eine Nacht außerhalb seiner gewohnten Umgebung verbringen.
Die aktuell diskutierte Einführung eines Nonstop-Service als Standardangebot setze ein falsches Signal, meint Norman Heise, Vorsitzender der Landeselternvertretung in Berlin. "Die Unternehmen sollten von ihren Mitarbeitern gar nicht verlangen können, dass sie ihre Kinder über Nacht zurücklassen”, kritisiert er. Die Familie habe sich nicht einseitig nach den Vorgaben der Wirtschaft zu richten. Eine 24 Stunden-Betreuung der Kinder liegt so gesehen keineswegs im Interesse der Eltern: Sie dient vorrangig jenen Betrieben, die trotz machbarer Alternativen unbedingt an ihren gewohnten Zeittakten festhalten wollen: Vereinbarkeit betrachten sie als individuelles Problem, das die Kita-Anbieter mit Turbo-Dienstleistungen lösen sollen.
* Namen teilweise geändert
Thomas Gesterkamp
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